Meinersen. Leiferdes früherer Ortsbrandmeister Heinrich Fricke schildert, wie die Waldbrand-Katastrophe 1975 fünf Feuerwehrmännern das Leben kostete.
Der August 1975 war ein sonniger Traumsommer. Aus heiterem Himmel wurde daraus ein Trauma-Sommer. Bei der bis heute schwersten Waldbrandkatastrophe in Deutschland starben vor 50 Jahren im Landkreis Gifhorn fünf Feuerwehrmänner im Feuer.

Heinrich Fricke freute sich am Freitag, 8. August 1975, auf zu Hause. Nach vier Wochen ununterbrochener Grundausbildung stand dem 20-Jährigen das erste freie Wochenende bei der Bundeswehr bevor. Mit dem eigenen VW Käfer rollte er auf den elterlichen Hof in Leiferde.

Kurz vor 16 Uhr kam Fricke an. Kaum hatte er das verschwitzte Grünzeug abgelegt, damit seine Mutter die Bundeswehr-Uniform waschen konnte, da heulte die Sirene. Also rein in die damals übliche blaue Kombi der Feuerwehr und hinüber zum Gerätehaus. Fricke war freiwilliger Feuerwehrmann, sein Vater stellvertretender Ortsbrandmeister in Leiferde.

Ein erster Waldbrand bei Leiferde bricht bereits am Freitagnachmittag aus
Der Alarm galt einem Wald- und Geländebrand östlich der heutigen Bahnhofstraße, erinnert sich Fricke. Die schicksalhaften „Neun Tage von Meinersen“, wie sie in Volker Laubrichs Chronik „Das große Feuer“ anhand von Protokollen und bislang kaum gezeigten Fotos dokumentiert sind, nahmen ihren Verlauf. Der heute 69 Jahre alte Heinrich Fricke hat sie nie vergessen. Zeitdokumente hat er in einem roten Aktenordner archiviert.

„Die fünf Hektar hatten wir mit Ortsbrandmeister Theo Dießel, unserem Bäckermeister, relativ schnell im Griff“, berichtet Fricke. Die Leiferder hatten eins der seinerzeit wenigen Tanklöschfahrzeuge, „auch schon mit Funk“, was 1975 keineswegs Standard war. Für eine Nachtwache schlugen die Freiwilligen ein Zelt an der Brandstelle auf. Der Stützpunkt sollte bis zum 17. August, dem Ende des Katastrophenalarms, nicht mehr abgebaut werden.

Das Leiferder Tanklöschfahrzeug wird nach Stüde abgezogen. Dort wütet der erste katastrophale Waldbrand
Die Idee, mit den rund 30 Leiferder Freiwilligen ein Zwei-Schicht-System aufzubauen, zerschlug sich. Die Kreiseinsatzleitung beorderte das Leiferder Tanklöschfahrzeug Samstag früh nach Stüde, wo sich der erste verheerende Waldbrand im Landkreis Gifhorn bis Grußendorf und Westerbeck durchfraß.
„Unsinnig, die Leiferder wurden ihres Löschfahrzeugs beraubt“, so empfand es die Ortswehr damals. Den Leiferdern blieben eine Tragkraftspritze, eine Pumpe der Texaco-Ölfeldfeuerwehr – und Feuerpatschen. Aber klar, „Raritäten wie das Tanklöschfahrzeug waren begehrt“, weiß Fricke.

Der Borgward mit Allrandantrieb auf einem sogenannten Nato-Fahrgestell und 1600 Liter großem Wassertank war übrigens das gleiche Modell, mit dem tags darauf die Fallerslebener Waldbrand-Opfer ins Verderben fuhren. Aber das konnte Fricke damals nicht ahnen.
Ein Schlipsträger aus Wolfsburg an der Stüder Brandlinie. Es kommt fast zu Handgreiflichkeiten
Er sollte mit zwei Leiferder Kameraden und Feuerwehrleuten aus anderen Dörfern einen Stüder Brandabschnitt halten – was nicht gelang. „Wir mussten uns zurückziehen“, berichtet Fricke.
Dazu kamen die Sorgen um die Situation in Leiferde, wo das Buschfeuer wieder aufgeflammt war. Die Bitte, das Tanklöschfahrzeug wieder an den Heimatstandort zurückverlegen zu dürfen, wurde zunächst von der Gifhorner Einsatzleitung abgelehnt. Unter welchem Stress in der Katastrophe alle standen, versinnbildlicht diese Episode, die sich Heinrich Fricke eingebrannt hat: „Aus Wolfsburg kam jemand von der Berufsfeuerwehr nach Stüde, mit Schlips und Fahrer.“
Dessen Besserwisserei, man müsse „dem Feuer die Nahrung entziehen“ und Altholz aus dem Gestrüpp ziehen, hatte den Helfern an der Feuerlinie gerade noch gefehlt. Der Wolfsburger räumte das Feld schließlich rechtzeitig, bevor Gifhorner Nordkreis-Feuerwehrmänner ihm eine handfestere Antwort gaben. Endlich, Samstagabend gegen 19 Uhr konnten die Leiferder zurück nach Hause, wo sie ihre Kameraden beim Nachlöschen ablösten.
Der verhängnisvolle Sonntag, 10. August 1975. Plötzlich steigt ein bedrohlicher Feuerpilz auf
Und dann kam der verhängnisvolle Sonntag, 10. August 1975: Der Tag, „an dem es richtig losging“, wie es Heinrich Fricke im Rückblick nennt. Die Leiferder hatten nach einer weiteren nächtlichen Brandwache an der Bahnhofstraße bis zum Mittag die Schläuche eingesammelt und wollten gegen 13 Uhr endlich Feierabend machen.
„Da entstand in Richtung Meinersen plötzlich ein Feuerpilz, wie ich es noch nie gesehen habe“, erzählt Fricke. Über Funk kam sofort Alarm. Das Feuer wütete etwa 150 Meter westlich der Landesstraße 283 zwischen der Bundesstraße 188 und Leiferde. „Wir haben alles liegen lassen und sind los“, macht Fricke die dramatische Situation klar. Es war jenes Feuer, das wenig später den Kameraden aus Fallersleben und Hohenhameln zum Verhängnis werden sollte.
Starke Ostwinde fachten die Flammen weiter an und trieben sie in Richtung Meinersen. „Das hat dermaßen Ausmaße angenommen“, schaudert es Fricke noch heute. Ein Großalarm folgte. Die Leiferder kämpften mit allem, was sie hatten. „Das Fußvolk fuhr in eigenen Autos in den Wald.“ Fußvolk, das war der Begriff für Freiwillige, die nur mit Spaten und Feuerpatschen mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Flammen vorgingen.
So erreichte die Leiferder die Todesnachricht ihrer Kameraden
Was die Leiferder erst im Laufe des Montags nach einer Lagebesprechung mit ihrem Ortsbrandmeister Dießel erfuhren, war der Feuertod der fünf Kameraden weiter nördlich im brennenden Wald. Fricke: „Da drang durch, dass etwas Furchtbares passiert ist.“
Das Verhängnis beschreibt der Meinersener Samtgemeindemitarbeiter Volker Laubrich in seinem Protokollbuch „Das große Feuer“, in dem er aus der Zeitschrift „Die Feuerwehr“ vom Dezember 1975 Ermittlungsergebnisse der Polizei zitiert: „Zur Absicherung eines unmittelbar vor Meinersen gelegenen Waldstücks am Schwülper Weg waren die Tanklöschfahrzeuge Fallersleben, Hohenhameln und Lengede eingesetzt. Durch den unberechenbaren böigen und wechselnden Wind gerieten die Fahrzeuge in einen Feuersturm, der einen sofortigen Rückzug erforderte.“
Brannte erst nur das Gras auf dem Waldboden, „brach aus östlicher Richtung plötzlich unter orkanartigem Rauschen und Brausen ein Feuersturm los. Lange Flammenbündel schossen bis über die Baumwipfel empor und die Luft füllte sich mit Funken und dichtem Rauch.“ Ein Höllenfeuer geradezu alttestamentarischen Ausmaßes. „Die am weitesten nördlich stehenden Feuerwehrmänner aus Lengede und Hohenhameln rannten um ihr Leben, darunter Hartmut Oelkers und Otto-Oskar Könneker. Sie sahen den Fallerslebener Tanklöschwagen mit Kurt Fischer, Gerhard Schlie und Helmut Wille, hörten noch den Befehl ,Wasser marsch!‘, riefen den Kameraden aber zu, bloß alles liegen zu lassen und sich zu retten. Doch die drei Fallerslebener blieben, Hartmut Oelkers vertraute sich ihnen an.
Alle rannten weg. Die Fallerslebener blieben
Otto-Oskar Könneker hastete weiter, strauchelte aber nach wenigen Metern und brach mit Atemnot erschöpft zusammen; er starb. Drei Hohenhamelner retteten sich durch das sengende Unterholz bis zu den Bahngleisen und kamen ins Krankenhaus.
Oelkers und die drei Fallerslebener Kameraden blieben an deren Löschfahrzeug und kamen im Feuer um. Heinrich Fricke besitzt noch ein zeitgenössisches Zeitungsfoto, auf dem neben dem Borgward-Wrack ein mit Asche bedeckter Leichnam zu erkennen ist. Die Polizei sprach laut Fachmagazin „Die Feuerwehr“ von einer „möglichen Fehleinschätzung der Situation“. Aber was wäre richtig gewesen?
Heinrich Fricke glaubt, dass auch die Leiferder damals aus Erfahrung mit Waldbränden anders vorgegangen wären: „Immer rückwärts an den Brandherd fahren, damit man bei Gefahr sofort fliehen kann.“ Und Fricke schildert auch ein untrügliches Alarmsignal: „Wenn man dieses Heulen hört, wenn das Feuer auf einen zukommt.“ So habe er selbst Jahre später als Leiferder Ortsbrandmeister bei einem schweren Waldbrandeinsatz in Wilsche mit sechs jungen Kameraden das bedrohliche Geräusch erneut gehört und zum Selbstschutz den sofortigen Rückzug befohlen. „Die jungen Leute bekamen vor Schreck ganz weiße Nasen.“
Auch interessant

Auch interessant
Die Todesnachricht der Kameraden treibt den 69-Jährigen bis heute um. Die Erinnerung lastet schwer. Ja, „in unserer jugendlichen Unbedarftheit haben wir das anfangs gar nicht richtig verstanden. Aber später kam die Nachdenklichkeit“, versucht Fricke eine Einordnung. „Je älter man wird, desto mehr berührt es einen.“
Die wichtigste Lehre aus dem Desaster? Bei Feuer nicht überheblich werden
Trost und Halt bietet Fricke die Kameradschaft der Feuerwehr. Bis heute. „Ich habe bei der Feuerwehr viel gelernt“, sagt der 69-Jährige. Die Lehren aus dem Desaster? Natürlich: Mehr Technik, intensive Ausbildung. Die Feuerwehr vor 50 Jahren und heute, das ist bei Ausrüstung und Strategie gar kein Vergleich. Und dennoch gibt es einen Kernsatz, den Heinrich Fricke verinnerlicht hat und immer weitergeben würde: „Bei Feuer nicht überheblich werden.“
Ihr Newsletter für Gifhorn & Region
Kostenlosen Newsletter bestellen und täglich das Neueste aus der Region im Postfach lesen.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.
Die Samtgemeinde Meinersen wird der fünf Waldbrand-Helden an ihrem 50. Todestag mit einer Feierstunde gedenken. Wie damals 1975 ist der 10. August ein Sonntag. Auch Heinrich Fricke wird dann wieder die blaue Uniform der Feuerwehr anlegen.
Mehr wichtige Nachrichten aus dem Landkreis Gifhorn lesen:
Lesen Sie auch




weitere Artikel anzeigen
weniger Artikel anzeigen
